Zum Unrecht der Sterbehilfe

Zum Unrecht der Sterbehilfe

Karl Albrecht Schachtschneider

Das Bundesverfassungsgericht hat im Urteil vom 26. Februar 2020 (2 BvR 2347/15) aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht „als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ (Leitsatz 1) hergeleitet und Hilfe, sogar geschäftsmäßige Hilfe, bei der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen.

Das Urteil verkennt die Grundprinzipien unserer Rechtsordnung, ja die Grundprinzipien des Rechts überhaupt. Diese Grundprinzipien sind die Würde des Menschen, die Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für unantastbar erklärt, und die Freiheit, die die Würde des Menschen ausmacht und die Art. 2 Abs. 1 GG formuliert und schützt. Recht kann ausschließlich in Freiheit hervorgebracht werden, durch allgemeine Gesetze, denen jeder Bürger, unmittelbar oder mittelbar, gemäß der Mehrheitsregel, zugestimmt hat.

Das Gericht stützt in ständiger Rechtsprechung das Allgemeine Persönlichkeitsrecht auf das allgemeine Freiheitsgrundrecht in Verbindung mit dem Menschenwürdesatz (Rn. 205 des Urteils, zuletzt BVerfGE 120, 274 (303); 147, 1 ff. (19 Rn. 38)). Es gibt diesem Recht den höchsten Rang, den in Deutschland ein Recht haben kann.

Im Leitsatz 3 b erklärt das Gericht in S. 2:

„Die Achtung vor dem grundlegenden, auch das eigene Lebensende umfassenden Selbstbestimmungsrecht desjenigen, der sich in eigener Verantwortung dazu entscheidet, sein Leben selbst zu beenden, und hierfür Unterstützung sucht, tritt in Kollision zu der Pflicht des Staates, die Autonomie Suizidwilliger und darüber auch das hohe Rechtsgut Leben zu schützen“.

Art. 1 Abs. 1 GG lautet:

„Die Menschenwürde ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Art. 2 Abs. 1 GG lautet:

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Das Gericht und die diesem folgende herrschende Lehre verstehen weder die Dogmatik der Freiheit noch die der Menschenwürde. Sie ignorieren das die deutsche Rechtsordnung bestimmende Sittengesetz gänzlich. In dem Sterbehilfeurteil haben diese Irrtümer Folgen, die das Tötungsverbot des Juden- wie des Christentums einschränken. Das ist ein schwerer Kulturbruch.

Die Freiheit des Grundgesetzes ist durch das Sittengesetz definiert. Sie ist als äußere Freiheit die Unabhängigkeit von anderer nötigender Willkür und als innere Freiheit die Sittlichkeit, deren Gesetz der kategorische Imperativ Kants, das Sittengesetz, ist, das menschheitliche Liebesprinzip der lex aurea der Bergpredigt. Sie ist nicht das Recht, zu tun und zu lassen, was beliebt, nicht das Recht zur Willkür in den Grenzen der Gesetze, wie das das Bundesverfassungsgericht judiziert. Wirklichkeit findet die allgemeine Freiheit in der Gesetzlichkeit; denn freiheitliche Gesetze sind der allgemeine Wille des Volkes. Wer den Gesetzen folgt, verletzt niemanden. Die Gesetze müssen dem Recht genügen, also die Verfassung einhalten, vor allem die Verfassung, die mit dem Menschen geboren ist. Das ist die Freiheit in Sittlichkeit, die die Rechte anderer, vornehmlich deren Freiheit, achtet. Wenn diese Freiheit durch Rechtlichkeit verwirklicht ist, geht es allen Menschen gut. Die Materialisierung der Freiheit ist Sache des Staates als der Organisation des Volkes für das gute gemeinsame Leben, die Wirklichkeit des Rechts, gemäß den Regeln des Verfassungsgesetzes[1].

Die Freiheit ist die Menschheit des Menschen. Nur diese Freiheit „aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“ (Kant[2]) ist die Würde des Menschen, die Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG für unantastbar erklärt. Dieser Würdebegriff ist ausweislich Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte das Weltrechtsprinzip:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander in Brüderlichkeit begegnen“

Das Gericht leitet demgegenüber vielfältige Rechtssätze und Rechte aus dem Menschenwürdesatz her, die in keinem Gesetz stehen, also nicht vom Volk freiheitlich, unmittelbar oder mittelbar, beschlossen sind. Es macht sich durch seine Judikatur entgegen dem demokratischen Prinzip und entgegen der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung zum Verfassungsgeber, dessen Diktate unumstößlich sind[3]. Das Volk ist jedoch der Gesetzgeber, nicht das Verfassungsgericht.

Die materiale Verfassungsgrundlage des Urteils zur Sterbehilfe ist vor allem der mißverstandene Menschenwürdesatz, weniger der Freiheitssatz. Die allgemeine Freiheit kann nach der Judikatur durch Gesetze eingeschränkt werden. Ein solches, rechtlich nicht bedenkliches Gesetz war § 217 Abs. 1 StGB. Die Strafvorschrift hatte die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe gestellt, freilich die nicht geschäftsmäßige Sterbehilfe weitgehend von der Strafbarkeit ausgenommen (Absatz 2). Sie ist nun für verfassungswidrig und nichtig erklärt worden, weil sie mit der Menschenwürde unvereinbar sei. Ausgerechnet aus der Menschenwürde soll das Recht folgen, sich zu töten. Der Tot beendet das Subjekt der Würde, das Leben des Menschen. Die Tötung von Menschen ist nicht rechtens. Es gibt Ausnahmen in Fällen der Notwehr und Nothilfe und folglich auch im Verteidigungsfall.

Art. 2 Abs. 1 GG schützt das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit, nicht das Recht, dieser Persönlichkeit das Subjekt, den Menschen, zu nehmen. Der Tote kann seine Persönlichkeit nicht mehr entfalten.

Das Gericht argumentiert mit dem „in der Würde des Menschen wurzelnden Gedanken autonomer Selbstbestimmung“, die es durch das Allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt sieht (Rn. 207 des Urteils). Diesen Begriff kann man einführen, aber man sollte ihn auch verstehen. „Autonom“ sind Gesetze, die aus sich heraus gelten, deren Materie somit vom Gesetzgeber nicht herrschaftlich gesetzt, sondern freiheitlich als praktische Vernunft erkannt wird. Aber das Recht zur Selbstbestimmung als das Recht, unter dem eigenen Gesetz zu leben, das als Gesetz zugleich allgemein ist, ist das Recht und die Pflicht zur Sittlichkeit, zur praktischen Vernunft.

Die Selbsttötung ist weder sittlich noch vernünftig, weil sie als Maxime nicht Grundlage eines allgemeinen Gesetzes sein kann, etwa: Wer will, darf sich das Leben nehmen. Wer das nicht allein schafft, darf Hilfe in Anspruch nehmen, auch geschäftliche.

Die Fähigkeit des Menschen zur praktischen Vernunft, zur sittlichen Freiheit, seine Würde, dementiert das Bundesverfassungsgericht explizit und offenbart, daß es die Ethik des Grundgesetzes, das Sittengesetz, nicht versteht und darum ignoriert. Den Willen verwechselt das Gericht mit Willkür, Freiheit mit Neigungen. Den „freien Willen“ (Rnn. 240 ff. u. ö.), den das Gericht vor allem über die Schutzpflicht des Staates für das Leben stellt, gibt es nicht.

„Der Wille, der auf nichts anderes, als bloß auf Gesetz geht, kann weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlungen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen (also auf die praktische Vernunft selbst) geht, daher schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist“;

denn der Wille ist objektiv, die praktische Vernunft. „Nur die Willkür kann also frei genannt werden“[4]; denn der Mensch kann, nicht darf, in seinem Handeln die Freiheit verfehlen, etwa die Gesetze des Rechts mißachten.

Zur Randnummer 210 des Urteils steht:

„Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht (…). Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum „ureigensten Bereich der Personalität“ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden“.

Es ist Dogmatik des Individualismus, „dass der Einzelne seine Identität und Individualität selbstbestimmt finden, entwickeln und wahren kann“ (Rn. 207),  nicht die Ethik der Freiheit des Menschen als Vernunftwesen, das unter dem selbstgegebenen, aber allgemeinen Gesetz lebt und stirbt, nämlich als Person[5]. Von dem jahrzehntelang plakatierten Menschenbild, „der Mensch sei „nicht isoliertes und selbstherrliches Individuum, sondern gemeinschaftsbezogene und gemeinschaftsgebundene Person” (BVerfGE 4, 7 (15 f.); 65, 1 (44), st. Rspr.), ist das Gericht augenscheinlich abgerückt. Das Gericht stellt damit das Vernunftprinzip des Weltrechts in Frage.

Die Fähigkeit eines Menschen zur Selbstbestimmung, der sich ernsthaft selbst töten will, ist mehr als zweifelhaft ist. Das ist eine Frage für Empiriker. Von Suizidologen liest man, daß die meisten Menschen mit Willen zur Selbsttötung unter einer psychiatrisch behandelbarer Störung leiden, trotz somatischer Krankheit. Vielen dieser Menschen könne Zuwendung den Lebenswillen erhalten. Die notwenige Zuwendung kann von kommerziellen Sterbehelfern kaum erwartet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat sie nicht eingefordert.

Die Selbsttötung ist aus guten Gründen nicht strafbar, aber eine Freiheit, sich selbst zu töten, gibt es nicht. Kant begründet das Verbot der „Selbstentleibung“ mit der Achtung, die jeder Mensch der “Menschheit in seiner Person“ schuldet[6]. Diese aufklärerische Ethik entspricht Jahrtausende alter jüdischer und christlicher Tradition. Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“, verbietet auch die Selbsttötung; denn das Leben ist von Gott und kann nur von Gott genommen werden. Dietrich Bonhoeffer:

„Es gibt keinen anderen zwingenden Grund, der den Selbstmord verwerflich macht als die Tatsache, daß es über den Menschen einen Gott gibt. Diese Tatsache wird durch den Selbstmord geleugnet.“

Karl Barth:

„Das Leben des Menschen gehört nicht ihm, sondern Gott“[7].

Katholischer Katechismus, autorisiert von Papst Benedikt XVI:

„Das fünfte Gebot verbietet schwerwiegende Verstöße gegen das Sittengesetz: den direkten und willentlichen Mord und die Beihilfe dazu, die direkte Abtreibung …, die direkte Euthanasie…, den Selbstmord und die freiwillige Beihilfe dazu, weil er ein schwerer Verstoß gegen die rechte Liebe zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten ist. Die Verantwortung dafür kann aufgrund eines Ärgernisses verstärkt oder wegen besonderer psychischer Störungen oder schwerer Furcht vermindert werden.“

Man muß nicht religiös sein, um das umfassende Tötungsverbot anzunehmen. Es gehört zur Kultur der christlich geprägten Welt, jedenfalls Europas und Deutschlands.

Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, soll auch die Hilfe zu dieser Tötung einschließen, selbst die geschäftsmäßige Sterbehilfe und die Sterbeassistenz ins Recht setzen. Die Sterbehilfe ist Tötung. Sie ist kausal für den Tod eines Menschen und geschieht mit Vorsatz. Es ist fragwürdig, sie als straflose Beihilfe zu einer straffreien Tötungshandlung einzustufen, weil die Tatherrschaft des Suizidenten im Regelfall zweifelhaft ist. Hätte er sie, müßte ihm bei der Selbsttötung nicht geholfen werden. Die Tatherrschaft hat der sogenannte Assistent der Tötung. Er kann die ‚Sterbehilfe’ unterlassen. Sonst begeht er mittelbar Totschlag. Wenn ihn der Geschäftszweck bestimmt, ist er wegen niedriger Beweggründe Mörder. Zumindest begeht er Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB). Wegen der Schwierigkeiten, die verschiedenen Tötungstatbestände zu praktizieren, war es hilfreich, einen eigenen Straftatbestand, § 217 StGB, zu schaffen. Die heiklen strafrechtsdogmatischen Abgrenzungen bearbeitet besser ein Strafrechtler. Die Straffreiheit der Selbsttötung läßt sich jedenfalls nicht auf die Tötungshilfe übertragen.

Das Sterbehilfeurteil des Bundesverfassungsgerichts macht einen großen Schritt zur Euthanasie, zunächst für Menschen, die „autonom selbstbestimmt“ sterben wollen, weil sie wegen ihres Alters, wegen einer Krankheit oder aus anderen Gründen den Lebenswillen verloren haben. Der Schritt zur Euthanasie, die heteronom, also fremdbestimmt ist, ist kleiner geworden. Wir hatten das schon. Überhaupt könnte der Menschenwürdesatz eine Rechtfertigung der Fremdtötung hergeben, etwa: Neue Generationen von Menschen sollen leben können. Das gebietet ihre Würde. Es werden zu viele Menschen für unsere Erde. Die Ressourcen reichen nicht mehr. Die Lebenszeit muß begrenzt werden. Die Kindestötung im Mutterleib ist längst weitgehend legalisiert.

Seit der Corona-Pandemie verliert das Leben der Alten zunehmend an Schutz. In einigen Ländern, deren medizinische Hilfsmöglichkeiten unzureichend sind, wird eine schematische Triage praktiziert. Wer das 80. Lebensjahr überschritten hat, ist der Verteidigung seines Lebens durch das Gemeinwesen nicht mehr sicher. Sein Sterben verliert den Schutz der Würde. Die um des Bestandes der Europäischen Union, vor allem des Euros, willen erzwungene Austerität hat zu drastischen Einsparungen der medizinischen Vorsorge geführt. Die ohnehin rechtlose Eurorettungspolitik hat sich als tödlich erwiesen. Hinzu kommt die Vernachlässigung hinreichender Autarkie vor allem der Arzneimittel, auch in Deutschland, der früheren Apotheke der Welt, um des Geschäfts der multinationalen Konzerne willen, die das Lohn- und Preisgefälle der Staaten für ihre globalen Lieferketten nutzen.

Die Mißbrauchsgefahren der legalen Sterbehilfe liegen auf der Hand. Wie lange muß doch der Erbe warten, bis der Erblasser endlich gestorben ist. Viele alte, kranke Menschen wollen ihre Lieben nicht länger mit der Pflege belasten. Das Gericht hat jedoch die staatliche Schutzpflicht für das Leben (Rnn. 228 ff. des Urteils) um des „freien Willens“ des Sterbewilligen relativiert.

Das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) ist auch eine sittliche Pflicht zu leben. Es ist Pflicht des Staates, das Leben ohne Einschränkung bis zum Tod zu schützen. Das war unsere Kultur und sollte unsere Kultur bleiben. Es ist das einzig mögliche Recht in einem Gemeinwesen, das die Menschenwürde zum Leitprinzip erhoben hat.

Berlin, 6. März, 30. März, Karfreitag 2020, 11. September 2020

 

 

[1] Zur Freiheitslehre des Grundgesetzes K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, 2007.

[2] Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, 1968, Bd. 6, S. 67 f.

[3] K. A. Schachtschneider, Der Menschenwürdesatz des Grundgesetzes, 2017, Homepage www.KASchachtschneider.de, Aktuelles; auch G. Dürig, Kommentierung Art. 1 GG, in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 1958, Rn. 4 zu Art. 1 Abs. 1 GG gegen die Subjektivierung des Menschenwürdesatzes

[4] Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, 1968, S. 332

[5] Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 60 f., 72, Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 329 f.

[6] Metaphysik der Sitten, daselbst, S. 554

[7] Beide Zitate der Protestanten, Der Spiegel 36/1976 vom 30. August 1976